Impressionen der vergangenen Jahre
30. Jahrestag der Neugründung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät
30 Jahre? Selbstverständlich wird an der Leipziger Universität nicht erst seit drei Jahrzehnten auf ökonomischem Gebiet gelehrt und geforscht! Diese Zahl geht vielmehr auf wissenschaftspolitische Entscheidungen während des deutschen Wiedervereinigungsprozesses zurück, die eine Zäsur darstellten. Wie alle sozialwissenschaftlichen Bereiche als systemnah und ideologieverstrickt deklariert, wurde die Sektion Wirtschaftswissenschaften der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig nach 1989 komplett abgewickelt und auf einen inhaltlichen und personellen Neuaufbau ausgerichtet.
Wenn die 1993 neugegründete Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, kurz WiFa genannt, im Oktober 2023 ihr Jubiläum feiert, hat sie jenseits der historisch gesehen kurzen drei Jahrzehnte eine lange und wechselvolle Geschichte aufzuweisen. Die ab 2009 zentral am Augustusplatz / Grimmaische Straße beheimatete Fakultät hat Vorläuferinstitutionen, die mehr als zwei Jahrhunderte lang Spuren hinterlassen und Wegmarken gesetzt haben. Ein kurzschweifender Blick in die Vergangenheit erhellt die Genese der heutigen WiFa.
Autorin: Professorin Dr. Friedrun Quaas (Dipl.-Math., Dipl.-Ök.) war von 1987-1992 wissenschaftliche Assistentin am Wissenschaftsbereich Wirtschaftsgeschichte / Geschichte der Politischen Ökonomie der Leipziger Universität und wurde 1991 promoviert. Sie war Mitglied der Kommission zur Neugründung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und ab 1992 am im Entstehen begriffenen Institut für Wirtschaftspolitik tätig. Nach der Habilitation von 1999 lehrte sie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als Privatdozentin, 2005 erfolgte die Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin. Seit dem ruhestandsbedingten Ausscheiden 2019 besitzt sie den Angehörigenstatus der Universität Leipzig. Ihre Forschung liegt vor allem auf den Gebieten der Geschichte der ökonomischen Theorie, der Sozialen Marktwirtschaft und der Ordnungsökonomik.
Im Jahr 1764 wurde an der Universität Leipzig der erste Lehrstuhl für Ökonomie, Polizey- und Kameralwissenschaft eingerichtet und mit Daniel Gottfried Schreber besetzt. Seine Antrittsvorlesung lautete: „Von den Schäden, welche als Folgen der vernachlässigten ökonomischen Wissenschaften anzusehen sind“. Schrebers Motto darf als eine verspätete Reaktion auf die schon Jahrzehnte zuvor von Gelehrten wie Christian Thomasius vergeblich gestellte Forderung nach besserer ökonomischer Bildung an den Hohen Schulen aufgefasst werden. Die auffällige Nähe zu landwirtschaftlichen Themen im Großteil der damaligen ökonomischen Abhandlungen verrät ein speziell ausgelegtes und noch eher begrenztes Verständnis der Wirtschaftslehre, das für eine längere Periode dominant blieb.
Das Wirken von Wilhelm Roscher, der 1848 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Staats- und Kameralwissenschaften in Leipzig folgte und bis zum Frühjahr 1894 Vorlesungen hielt, läutete die Ära der Historischen Schule der Nationalökonomie ein, als deren Begründer Roscher gilt. Die Jahrzehnte lange Vorherrschaft der Historischen Schule begann erst in ihrer jüngeren Phase mit der Kritik am „Kathedersozialismus“ zu bröckeln, die sich auch in Gestalt des berühmten Methodenstreits entlud.
Die Ausformung der ökonomischen Lehre und Forschung an der Universität Leipzig ist während jener weit in das 20. Jahrhundert hineinreichenden Periode unter anderem mit den klangvollen Namen von Georg Friedrich Knapp, Lujo Brentano, Karl Bücher, Wilhelm Stieda, Jakob Strieder, Ludwig Pohle und Eugen Würzburger verbunden. Ihre Leistungen auf dem Gebiet der Nationalökonomie umfassten Theorie und Politik, Wirtschafts- und Ideengeschichte, Statistik und Finanzwissenschaft.
Organisatorisch war die Ökonomie seinerzeit in Form verschiedener Seminare in die Philosophische Fakultät integriert. Erst 1928 erfolgte die Umbenennung der „Vereinigten staatswissenschaftlichen Seminare“ in „Institut für Wirtschaftswissenschaften und Statistik an der Universität Leipzig“. Die Lehrdisziplin „Privatwirtschaftslehre“ wurde zeitgleich in die inzwischen bereits üblich gewordene Bezeichnung „Betriebswirtschaftslehre“ umbenannt.
Die während der Herrschaft der Nationalsozialisten angestrebte ideologische Gleichschaltung des Denkens und der Wissenschaft hatte sowohl inhaltliche wie personelle Konsequenzen. Um die Einschwörung auf die nationalsozialistische Ideologie zu erreichen, wurden unliebsame Personen von ihren Positionen vertrieben. Einer der ersten, den das betraf, war der Leipziger Nationalökonom Gerhard Kessler, der 1933 wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ in den Ruhestand versetzt wurde.
Allerdings war auch ein Kotau vor der nationalsozialistischen Ideologie keine Garantie für ein Verbleiben an der Universität. So hatte beispielsweise der Finanzwissenschaftler Bruno Moll wie viele andere das „Bekenntnis deutscher Professoren zu Adolf Hitler“ vom November 1933 unterzeichnet, wurde aber wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen. Als Inhaber der zu Beginn der NS-Zeit bereits besetzten ökonomischen Lehrstühle waren der Volkswirt Kurt Wiedenfeld und der Betriebswirt Alexander Hoffmann im Amt geblieben.
Informationen über die universitäre Gesamtsituation sind jedoch lückenhaft geblieben, da der Prorektor im April 1945 die Order zur Bereinigung bzw. zum Vernichten der Personalakten gab. Entlassungen betrafen zudem nicht nur das Personal, sondern auch einige Studierende wurden aus der Leipziger Universität ausgeschlossen.
Parallel zur Wiederaufnahme des Lehrbetriebs an der Universität Leipzig im Februar 1946 fand ein Prozess der Entnazifizierung und personellen wie organisatorischen Erneuerung unter dem Banner des Sozialismus statt. Die ökonomische Struktureinheit bekam als Teil der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät ihr Domizil in der Ritterstraße. Gelehrt wurde in den Fachgebieten Geschichte, Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft, Publizistik, Steuern sowie Versicherung, bis 1949 kamen die Gebiete Wirtschaftspädagogik sowie Handel und Verkehr hinzu.
Die Gründung der (ersten) Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät erfolgte 1953 mit folgendem Aufbau: Politische Ökonomie, Industrieökonomik, Arbeitsökonomik, Verkehrsökonomik, Binnenhandelsökonomik und Außenhandelsökonomik. Ihr Domizil wurde das Franz-Mehring-Haus in der Goethestraße.
Im Ergebnis mehrerer Hochschulreformen wurde im April 1972 die Sektion Wirtschaftswissenschaften als eine von 16 Sektionen der Universität geschaffen, nachdem der handelswissenschaftliche Bereich 1969 an die Handelshochschule ausgegliedert und die eigenständige Fortsetzung einer wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung an der Universität sogar in Frage gestellt worden war. Nach der Fertigstellung des Universitätshochhauses (dem heutigen City-Hochhaus mit Panorama-Tower) wurden dessen 20. und 21. Etage das neue Domizil. Bis zum Studienjahr 1989/90 wurde in die zum Abschluss mit dem Titel Diplom-Ökonom führenden Studiengänge Politische Ökonomie, Rechnungsführung und Statistik, Arbeitsökonomie (vormals Betriebswirtschaftslehre) sowie in ein berufsbegleitendes Fernstudium immatrikuliert.
Es bedarf wohl kaum der näheren Begründung, dass es auch in der DDR wirtschaftswissenschaftlich Lehrende und Forschende gab, deren fachliche Kompetenz international anerkannt und geschätzt war, als frühe Beispiele seien der Statistiker Felix Burkhardt und der politische Ökonom Fritz Behrens genannt. In den der Abwicklung von 1990 folgenden Evaluierungen der Hochschullehrer sind es daher nicht nur nachweisbare fachliche Nichteignung oder politisch-moralische Verfehlungen, wie z. B. eine Tätigkeit für die sogenannte Stasi, gewesen, die den Ausschlag für die Verweigerung einer Weiterbeschäftigung gaben. In einigen Fällen hat man wohl auch die Chance gesehen, bestimmte Denkrichtungen und Schulen zu verdrängen, obwohl diese im anderen Teil Deutschlands, wenngleich auch nicht als Mainstream, durchaus präsent waren.
Eine erfolgreiche Evaluierung war zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine Weiterbeschäftigung. In erheblichem Maße geht die Ausdünnung des wissenschaftlichen Personals auf Anpassungen an die Organisationsstruktur des westdeutschen Universitätsmodells zurück, zu dem die am Ende der DDR bestehende hohe Anzahl von Hochschullehrern und ein breit aufgestellter akademischer Mittelbau mit zum Teil unbefristeten Stellen nicht kompatibel war. Da mit dem Abwicklungsbeschluss per Schreiben an die Mitarbeiter vom 19. Dezember 1990 alle Arbeitsverträge eigentlich zum Jahresende auslaufen sollten, dann aber selektiv in mehreren Anschlussrunden für jeweils einige Wochen verlängert wurden, ist der für erforderlich gehaltene Personalabbau nicht auf einen Schlag realisiert worden. Im Oktober 1991, nachdem viele Mitarbeiter bereits nicht mehr unter Vertrag standen, wies die Personalübersicht mit 25 habilitierten Hochschullehrern bzw. Oberassistenten und 43 teils promovierten wissenschaftlichen Mitarbeitern, Aspiranten und Forschungsstudenten immer noch eine zu hohe Gesamtzahl aus, um zum geplanten Neuaufbau der Fakultät zu passen. Außerdem war die schlichte Übernahme in ein neues Arbeitsverhältnis nicht vorgesehen, sondern alle wissenschaftlichen Stellen wurden neu ausgeschrieben, und die jeweiligen Bewerberzahlen waren hoch.
Die von der Sächsischen Staatsregierung eingesetzte Gründungskommission war mit dem Auftrag ausgestattet worden, die Lehrstuhl- und Institutsstruktur, die Personalausstattung sowie die sächlichen Bedingungen einer neuen Fakultät in einem Gründungskonzept vorzuschlagen und hatte dazu Auflagen erhalten. Geplant waren zunächst maximal 15 Lehrstühle, denen mit Ausnahme der drei sogenannten Gründungsprofessuren für Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik nicht die üblichen drei, sondern nur zwei Mitarbeiterstellen zugeordnet werden sollten.
Nachdem die Gründungskommission unter Vorsitz von Gernot Gutmann am 27. Mai 1991 mit der konstituierenden Sitzung ihre Arbeit aufgenommen hatte, beschloss das Ministerium überraschend, die Handelshochschule Leipzig und die Technische Hochschule Leipzig aufzulösen und Teile davon in die Universität zu integrieren. Aus den drei separaten Gründungskommissionen wurde eine Integrationskommission unter dem Vorsitz von Bert Rürup gebildet, die im April 1992 zu arbeiten begann. Sie stand nicht nur vor der Aufgabe, alte Strukturen aufzulösen, was mit einem Abbau des nun noch größeren Personalüberhangs verbunden war, sondern sie musste auch sehr unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen miteinander verbinden.
Die Berufungsverfahren für die ausgeschriebenen Professuren liefen sukzessive an. Die für den akademischen Mittelbau ausgeschriebenen Stellen wurden ab dem Wintersemester 1992/93 neu besetzt. Die Fakultät veränderte noch vor ihrer Neugründung den Standort und wechselte zum Campus Jahnallee.
Als die Integrationsphase mit der Gründungsveranstaltung der WiFa am 26. Oktober 1993 erfolgreich beendet wurde, waren vier Diplomstudiengänge eingerichtet: Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsingenieurwesen. In Kooperation mit der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät konnte das Studium der Wirtschaftspädagogik begonnen werden. Anfangs wurden an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät etwa 1750 Studierende durch 17 Lehrstühle (inklusive 2 Stiftungslehrstühle) sowie das bis heute bestehende Fakultätsrechenzentrum betreut. Rasch etablierte sich die strukturelle Organisation in Instituten, die seitdem erheblich ausgebaut worden ist.
Es wäre an dieser Stelle vermessen, die gesamte Entwicklung wiedergeben zu wollen, die die Fakultät seit ihrer Gründung genommen hat und die durch viele Ereignisse und Aufgaben geprägt ist. Eine besondere Herausforderung war die Umstellung der Diplomstudiengänge auf die modularisierten Studiengänge mit dem Abschluss als Bachelor of Science und Master of Science, die ab dem Wintersemester 2005/06 in Angriff genommen wurde. Vorhandene Ausbildungsmuster wurden völlig neu konzipiert und grundständige und Aufbaustudiengänge, die das Profil der Fakultät erheblich verbreitert haben, sind auf den Weg gebracht worden. Die inzwischen mehr als 2.000 Studierenden sind in 11 Studiengängen immatrikuliert, gelehrt und geforscht wird mit der Ausstattung von 35 Professuren.
Schaut man heute auf die WiFa (https://www.wifa.uni-leipzig.de/), zeigt sie sich als eine der größten deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Sie stellt sich dabei den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Sie zeigt, welchen Beitrag die Wirtschaftswissenschaften zur Lösung vieler Probleme leisten können, denen sich moderne Volkswirtschaften im Kontext des globalen Wandels und internationaler Krisen gegenübergestellt sehen.
Die Fakultät kooperiert in hohem Maße mit international führenden Forschungsinstitutionen im In- und Ausland und versteht sich als zentrales sozio-techno-ökonomisches Brückenglied, das dazu in der Lage ist, einen wichtigen Beitrag zur Vernetzung der außeruniversitären Forschungsinstitutionen im Forschungsraum Leipzig zu leisten. Zu nennen sind hier exemplarisch insbesondere das aus Mitteln der DFG geförderte Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig (iDiv), das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), das Deutsche Biomasseforschungszentrum (DBFZ), das Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie (IMW), das Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) und das Leibniz- Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).
(Text ergänzt durch Herrn Professor Bruckner, Inhaber der Professur für Energiemanagement und Nachhaltigkeit)